Geschichte des Hauses

Marion Vogel: „Das Grundtvighaus in Sassnitz“

Wenn Sie im Sommer bei schönem Wetter vom Rügen-Hotel die Seestraße entlang in Richtung Altstadt schlendern, wird Ihr Blick schon nach wenigen Metern durch bunte Blumen, einladend ausgebreiteten Töpferwaren, vielfältige Veranstaltungsplakate und manchmal durch die rhythmischen Klänge einer Jazzband zur rechten Straßenseite gelenkt. Was hier zum Verweilen auffordert, ist ein soziales Kleinod der Stadt Sassnitz: Das Grundtvighaus.

In ihm können Sie nicht nur Kaffee, Tee oder ein Gläschen Wein trinken, sondern sich auch aus der Vielzahl der Veranstaltungsangebote für die nächsten Urlaubstage ein individuelles Kulturprogramm zusammenstellen, mit Einheimischen oder der Pastorin der Stadt ins Gespräch kommen. Schnell werden Sie die besondere Atmosphäre des Hauses spüren: Unaufdringliche Freundlichkeit, Willkommensein, bunte Vielfalt und kreative Ruhe. Schon das Interieur hebt sich wohltuend vom Einrichtungsstandard moderner Gebäude ab. Liebevoll aufgearbeitete alte Möbel, bunt zusammengewürfelt mit dem einen oder anderen modernen Stück, Grünpflanzen, Bilder. Alles wirkt gemütlich und auf sympathische Weise unfertig. Unfertig im Sinne von Veränderung. Eine Bewegung, die sich nicht nur in der äußeren Gestalt des Hauses, sondern auch in den Mietern und Projekten zeigt, die es beherbergt. Immer mal wieder verschwindet ein Projekt, weil es nicht mehr finanzierbar ist, weil sich damit verbundene Vorstellungen nicht erfüllten oder weil es neuem Platz machen muss.

Gegenwärtig beherbergt es u. a. eine Bibliothek, ein Café, einen Kino- und Veranstaltungssaal, Seminarräume, Gästezimmer, eine Küche, die Werkstätten einer Silberschmiedin und einer Töpferin, eine Beratungsstelle, Büroräume von Vereinen und Verbänden. Hier finden Gesprächsrunden, Theateraufführung, Konzerte, Kinoabende, Ausstellungen, Seminare, Vorträge und vieles mehr statt. Eine Vielfalt, die den Initiatoren von Anfang an vorschwebte, als sie 1991 begannen aus dem alten, längst baufälligen Fachwerk- und Lehmhaus eine sozio-kulturelle Begegnungsstätte für die Einwohner und Gäste der Stadt zu machen.

Eines der besten Häuser am Platze war es einmal. Als „Hotel der Geschwister Koch“ war es weit über Sassnitz hinaus bekannt und konnte etwa 100 Gästen Platz bieten. Betrieben wurde es von den drei resoluten und geschäftstüchtigen Schwestern Marie, Friederike und Caroline Koch, deren Onkel im Brandenburgischen einen Antiquitätenhandel betrieb und das Hotel mit wertvollen Möbeln ausgestattet haben soll. Als die Bedeutung der Stadt Sassnitz als Badeort abnahm, lief auch das Hotel nicht mehr gut und die Schwestern beschlossen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre das Haus für eine Wohnnutzung umzubauen. Auch der Pastor der Stadt war hier Mieter – vielleicht der Grund, warum sie das Haus in den 60er Jahren der Sassnitzer Kirchengemeinde vermachten. Nach dem Krieg, den es ohne Bombentreffer, aber nicht ganz unbeschadet überstanden hatte, fanden hier Flüchtlinge Unterkunft. Die Mieteinnahmen waren zu gering, um das Haus baulich in Stand zu halten. Der für die DDR typische Baustoff- und Handwerkermangel tat das übrige.

Als Thurid Pörksen Anfang der 90er Jahre als Pastorin von Bremen nach Sassnitz kam, war das Haus in einem erbärmlichen Zustand. Auf ihrem Schreibtisch häuften sich die Beschwerden der Mieter. Nach und nach zogen sie weg und es entstand die Idee, aus dem zentral gelegenen Haus mittels eines ABM-Projektes eine Begegnungsstätte zu machen. Über diese Idee berichtet eine Journalistin im Frühjahr 1991 in der Ostseezeitung. Der Artikel schließt mit dem Aufruf, dass jeder, der helfen wolle, herzlich willkommen sei. Das Echo ist überwältigend. Schon am ersten Wochenende melden sich 23 Leute. Sie erzählen von ihrem Leben und die Pastorin aus dem Westen begreift, was die Fischerei, die Kreide, der Hafen, das Militär für die Sassnitzer bedeuteten. Dort hatten sie gearbeitet, als Tischler, Maurer, Glaser, Fischer, Ingenieure … Was sie mitbrachten, war nicht nur ihre Arbeitskraft und der Wunsch zu arbeiten, sondern ein unschätzbares „Insiderwissen“. Sie wussten, wo noch Baumaterial lagerte, dass keiner mehr brauchte, weil die Betriebe aufgelöst wurden. Sie wussten, wer beim Transport helfen konnte, wen man fragen musste.

„Ohne sie hätte ich“, so sagt mir meine Gesprächspartnerin Thurid Pörksen, „wie der Ochse vorm Scheunentor gestanden“. Und sie nennt stellvertretend für die vielen fleißigen Helfer Namen: Maurermeister Erich Bütow, der sagt, wie man umgeht mit dem alten Lehmfachwerk; Bäckermeister Peters, der zum Mischen von Lehm und Mörtel eine alte Rührmaschine zur Verfügung stellt; Zimmermannsmeister Heinz Rose, der bei den Holzarbeiten mit gutem Rat zur Seite steht; Anna-Marie Karbautzki, die als verdiente Schlosserin der DDR den Männern „Zunder“ macht; der Direktor des Arbeitsamtes Dr. Kautzsch, der das Projekt unterstützt und die Genehmigung der ABM durchboxt und Helga Rosenhahn, die die riesigen Stapel der zusammengetragenen Bücher aus aufgelösten Betriebsbüchereien katalogisiert, zu einer nutzbaren Bibliothek zusammengefügt und nebenher das Kirchenarchiv auf den neuesten Stand bringt. Viele, sagt Thurid Pörksen, haben hier mitgedacht, mitgeplant und mitgemacht. „Inostoren“ nennt sie sie in Anspielung auf die fehlenden Investoren.

Zunächst wird entrümpelt, rausgerissen, abgebaut. Was wieder verwendet werden kann, wird geborgen und in mühevoller Handarbeit aufgearbeitet. Immerhin über 100 Fenster hat das Haus. Viele werden restauriert, andere durch die Männer und Frauen der Tischlerwerkstatt neu gebaut. Fünf Jahre dauert dieser Prozess. Eine Zeit, in der hier Menschen sinnvolle Arbeit finden und erste Projekte entstehen.

Ausgangspunkt aller Vorhaben und Pläne sind immer die Leute, ihre Probleme und Bedürfnisse: Da gibt es einen Schäfer, der arbeitslos ist. – Zwei Schafe werden angeschafft. Sie halten nicht nur den Rasen vor der Kirche kurz, sondern liefern Rohwolle, die gesponnen werden muss. – Also entsteht die Spinnstube. Doch wohin mit der gesponnenen Wolle? – Es wird gestrickt und gewebt.

So entstehen sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten für viele. Doch wo Leute zusammen arbeiten, wird geredet. Dabei kommen Probleme auf den Tisch, es wird diskutiert, auch über Politik. Daraus entstehen Gesprächsrunden. Konflikte werden deutlich, zwischen Ost und West, Arbeitslosen und Arbeitenden, Deutschen und Ausländern. Standpunkte stehen sich gegenüber, manchmal unversöhnlich. Da ist es gut, einen dritten Standpunkt dazu zu holen. Angesichts der täglich im Hafen ein- und auslaufenden Schiffe liegt es nah, nach Schweden und Dänemark zu schauen. Der Name „Grundtvighaus“ ist deshalb mehr als eine Hommage an den dänischen Theologen, Pädagogen und Dichter. Er soll Neugier wecken, Öffnung symbolisieren und zeigen, dass das was hier passiert abhängig ist von den Leuten, die es tun.

Autorin dieses Aufsatzes ist Frau Dr. Marion Vogel, ehemalige Leiterin der Kreisvolkshochschule Rügen.

Dieser Beitrag ist in der Reihe „Rügen – Impressionen, Informationen, Visitenkarten“ Heft Nr. 14 erschienen, welche die Kreisvolkshochschule seit 18 Jahren herausgibt. Diese ist zu beziehen über Telefon Bergen 03838-200580.